Friedenswanderung am 2.4.2022

Eine Geschichte der Selbst-Ermächtigung

 

Ausgangspunkt für diese Friedenswanderung ist die Betroffenheit über den Krieg in unserer Nachbarschaft.

Situationen wie ein Krieg, die wir uns nicht ausgesucht haben, die uns überraschen und unvorbereitet treffen, rufen häufig starke emotionale Reaktionen hervor. Alte Verletzungen, die in unseren sozialen Beziehungen entstanden sind, lösen dann Verhaltensmuster in uns aus, die wir zum  Selbstschutz entwickelt haben. Politiker*innen auf der nationalen und internationalen Bühne agieren oft auf ähnliche Weise heftig, ohne sich der Dynamik ihrer eigenen Verletzungen und der historischen Wunden bewusst zu sein. Mit der Trennung in Gut und Böse, mit Sanktionen, Strafe, Verurteilung, Drohungen und Hilfsaktionen auf allen möglichen Ebenen.

Unsere Absicht für diese Friedenswanderung ist eine Andere. Wir nehmen unsere Gefühle, Reaktionen und Einschätzungen über die Geschehnisse bewusst an und übernehmen die Verantwortung dafür. Ohnmacht (die Macht verlieren) wird so wieder zu Ermächtigung. Ermächtigung heißt hier, die Verantwortung für die eigenen inneren Kriege- und unseren möglichen  Beitrag für die  kollektiven Kriegsschauplätze zu übernehmen. Als Weg zur Selbsterkenntnis, zur Selbstheilung und zur Entwicklung von Frieden mit uns selbst und dem Menschsein.

Wie spiegelt der Krieg in der Ukraine unseren persönlichen und kollektiven Unfrieden und Frieden?

Mit dieser Fragestellung machen sich am 2. April 2022 Frauen und Männer auf den Weg, um im Spiegel der Natur Antworten, Erkenntnisse und innere Resonanzen zu finden. In einem definierten Zeitraum von 4 Stunden sind wir an unterschiedlichen Orten unterwegs, in der gemeinsamen Absicht der Fragestellung betroffen und verbunden und dennoch jede*r für sich alleine. Einige Tage später tauschen wir unsere Erfahrungen aus.

Die Erfahrungen zeigen: verlassen wir die Einflusssphäre der Informationen, die von außen auf uns einwirken und uns zu Projektionen nach außen einladen, verändert sich unsere Wirklichkeit. Unser Sein in der Natur öffnet uns eine Erfahrungswelt, die unsere Sinneswahrnehmungen, unsere Gefühle, unsere Körperempfindungen, unsere Intuition, unsere persönliche und kollektive Weisheit in den Blick rückt. Wir sind deutlich näher bei uns selbst, wenn wir die Informationsquellen unseres eigenen Erlebens nutzen.

Unterwegs im Spiegel der Natur – die Friedenswanderung

Grenzen, die trennen sind Quellen des Unfriedens

Grenzen, Zäune und Hecken zeigen auf den Wanderungen bei den meisten eindrücklich auf, dass die Grenzen in unserem Denken, Fühlen und Handeln den Frieden stören. Die Trennung in Gut und Böse, Gewinner und Verlierer schafft Unfrieden. Urteile und Wertungen trennen uns von unseren Gefühlen, machen uns zu Tätern und Opfern, isolieren uns von uns selbst und unserer Mitwelt. Der offene Blick des Herzens lässt erkennen, dass die Natur anders mit Grenzen umgeht. Bäume strecken ihre Äste über Zäune hinweg und ihre Wurzeln wachsen unter ihnen hindurch. Die Natur kennt ebenfalls Grenzen, sie geht aber anders damit um. Die Begrenztheit menschlicher Meinungen und Positionen lassen oft nur eine Wahrheit zu. Die eigene. Das ist eine Wurzel des Krieges. Die Erweiterung unserer Perspektiven lässt auch  andere Absichten oder Ursachen zu, die ebenfalls wahr sind, jedoch anders als die unseren. Sie haben ebenfalls das Recht, zu existieren.

Eine achtlos weggeworfene Plastiktüte, die beim Finder Ärger über eine vermeintliche Unachtsamkeit auslöst, kann so zu den Überresten eines Plastikdrachens werden, der einem Kind von der Schnur gerissen ist.

Ein Stacheldraht, der den Weg versperrt, wird zu einer schützenden Grenze für Weidetiere. Die Wut über die Barriere wandelt sich im Perspektivwechsel zur Freude über ein nur wenige Meter entfernt am Boden liegendes Ende des Drahtes, das den Weg freigibt.

Der Perspektivwechsel gelingt, wenn wir den Schmerz oder die Enttäuschung zu uns nehmen können ohne andere dafür zu beschuldigen. Hier kommen wir in Kontakt mit unseren Wunden, Verletzungen und unserer Verantwortung dafür. Sie gehören uns allein und wir alle haben Wunden – das verbindet uns im erwachsen Sein.

Wie Frieden möglich wird

Ein Aufenthalt am Fluss richtet das Bewusstsein eines Mannes in eine Richtung, wie Frieden möglich wird. Im Fluss bleiben mit unterschiedlichen Absichten und Sichtweisen. Die eigene Wahrheit ist nur eine von vielen. Sie kann hineinfließen in den Fluss unterschiedlicher Wahrheiten zusammen mit anderen Wahrheiten, die aus Quellen und Bächen den Fluss speisen. Die unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen fließen in einem Fluss zusammen, vereinigen sich zu etwas Verbundenem, in dem vieles oder alles seinen Platz hat. Anstatt in Diskussionen um das bessere Argument zu kämpfen oder Gewinner und Verlierer hervorzubringen.

Wollen und Müssen, Druck und Erwartungen, alte Wunden.
Demut und Annehmen dessen, was ist und wie es ist.  

Die Erwartung, etwas tun zu müssen, etwas Besonderes erreichen zu müssen, etwas schnell machen zu sollen, etwas sagen zu müssen, etwas genau so zu wollen…. führt in Stress und Unfrieden. Das Unspektakuläre, das Einfache nicht zu bewerten, zu verweilen, obwohl die Unruhe nach Aktivität verlangt, das schafft Frieden. Ruhe und Stille zuzulassen, Beobachten, Warten auf nichts Bestimmtes sind Ausgangpunkte für neue Erkenntnisse. Für die Entscheidung zum Innehalten braucht es die Bereitschaft, Gewohntes, Bequemes zu opfern und den aufkommenden Schmerz und die Muster des Vermeidens von Schmerz anzunehmen, ohne ihnen zu folgen.

Eine Frau spürte ein „müssen“ in sich, den sie als Unfrieden erlebt. Erwartungen, Druck,  Einsamkeit, Trennungsgefühle. Als sie sich entschließt,  überhaupt nichts zu müssen und selbst die Schöpferin dieses Augenblicks zu sein, wird sie plötzlich von großer Freude und 5 Rehen begleitet. Sie spürt einen magischen Moment und stellt sich vor, wie sie mit einem Umhang und goldenen Flügeln die Landschaft mit heilender Energie überzieht. „Das ist wunderbar“, sagt sie zu sich selbst. Frieden entsteht.

Ein lange Zeit beobachteter Grashalm offenbart dem Mann das Weiche, Weibliche, Bewegliche…Er beobachtet, obwohl im kalt ist. Das ist es, was jetzt dran ist.

Die alte, morsche Wunde einer Linde, die von lebendiger Rinde umwallt wird, erinnert einen andern Mann an seine alten Wunden, lässt den Schmerz fühlbar werden, ohne dass er darin versinkt. Die Linde ist kein Opfer ihrer alten Wunde, sie ist dadurch einzigartig lebendig – sie hat eine Wunde, sie ist aber noch viel mehr als das.

Frühlingsblüten werden vom Schnee gebeugt, sie neigen sich, geben nach, ohne zu vergessen, dass jetzt die Zeit des Blühens ist. Sie warten einfach ab. In ihrem Sein gibt es keine Bewertung der Widrigkeit, keine Klage über diese Umstände. Es ist jetzt so.  Demut im Umgang mit dem, was nicht zu ändern ist, bringt Frieden.

Die Wanderin ist unruhig, fühlt sich weit weg von sich. Sie fühlt sich von den  lachenden Spechten verlacht.  Ein Hochsitz bietet Überblick, einen Perspektivwechsel. Wasser gurgelt unter ihr, es sucht keinen Streit, ist selbstverständlich da. Sie denkt,  „ich verstehe die Sprache des Wassers nicht, ich komme mir dumm vor“. Unfrieden macht sich in ihrem Inneren breit. Dann spricht eine andere Stimme in ihr. „Die Spechte machen ihr Ding, sind selbstverständlich da, der Bach ist ebenfalls selbstverständlich da.“ Jetzt bemerkt sie die Stille und den Frieden in sich. Dann hört sie Radau, zwei Rehböcke jagen sich. Sie machen ihr Ding. Einer der Rehböcke nimmt Blickkontakt mit ihr auf, dann wendet er sich wieder von ihr ab (ganz selbstverständlich). Sie fühlt Traurigkeit und weint ein paar Tränen. Sie versteht: wenn die Traurigkeit nicht da sein darf, entsteht Wut und Unfrieden. Sie entscheidet, dem Krieg den Frieden anzusagen.

Die Spaziergänger*innen nerven, weil die Wanderin sich fragt,  was diese von ihr erwarten. „Muss ich sie grüßen?“ Unfrieden wird wach. Dann ist da immer wieder die Freude über die Frühlingspflanzen. Jetzt kommt wieder eine Erwartung: „ich muss an der Aufgabe für diese Wanderung arbeiten“ und sie spürt ihre Widerstände. Sie entscheidet, ins „Kriegsgebiet“ zu  gehen. Ein gespaltener Baumstamm erinnert sie an ihre selbst erlebten Beziehungsabbrüche, an Konflikte, unterschiedliche Bedürfnisse, Sprachlosigkeit. Dabei  fühlt  sie Ratlosigkeit. Das Thema Unfrieden macht ihr Angst.  Die Schönheit des Frühlings, die sie überall wahrnimmt, beurteilt sie als Ablenkung. Der Krieg gegen sich selbst ist da.

Schutzbedürfnis – Leben und Sterben

Wir sehnen uns nach Schutz, geschützt Sein, sicher Sein in unseren Grundbedürfnissen nach Integrität, körperlicher und seelischer Unversehrtheit, Freiheit, unserem Selbstausdruck. Sind wir in diesem Grundbedürfnis verunsichert (und sind das nicht die meisten von uns?), versuchen wir uns gegen vermeintliche Gefahren zu rüsten, indem wir Waffen bereithalten, die uns schützen sollen. Waffen unserer Persönlichkeiten sind beispielsweise Grenzen, die wir zwischen uns und Anderen ziehen (von denen wir uns bedroht fühlen, die Anders sind oder uns fremd…). Wir bilden Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen und die Andere ausschließen oder dominieren. Wir urteilen, bewerten, attackieren, ignorieren, bestrafen, ächten, um uns sicher fühlen zu können. Das alles kreiert keine Sicherheit und keinen Frieden. Diese Schutzzäune müssen ständig von uns bewacht werden und brauchen immer neue Energie, um die „Schlupflöcher“ unserer Angst zu stopfen. Ist Sicherheit eine Illusion, ein Mythos? Vor Verletzungen können wir uns nicht schützen, wenn wir wirklich leben wollen. Wir können uns nicht auf alles vorbereiten, was uns Schmerz bereiten könnte…aber wir können uns dafür entscheiden, damit umzugehen.

In der Natur und der Welt, auch in unserer inneren Natur gibt es ein umfassendes behütet Sein. Kräfte, die dazu befähigen, mit Herausforderungen umzugehen. So wie die verwundete Linde einen Weg gefunden hat zu heilen und weiter zu wachsen. Oder wie der Wald der abgestorbenen Bäume Licht und Nahrung freigibt für unzählige Pflanzen, die nachwachsen. Die nackten, blanken Stämme, der toten Bäume bestärken die Betrachterin darin, dass Wandel und Entwicklung sie sich immer wieder nackt und ungeschützt fühlen lassen. Der Borkenkäfer, der den Baum „schält“ ist kein Aggressor, er ist nicht schuld am Tod, es ist der Initiator für Entwicklung.

Dem Mann fällt ein Hinweisschild auf: „Schützenhütte“…Ist es eine Hütte, die Schutz bietet oder eine Hütte für Schützen, die schießen? Wohl das zweite. Welchen Schutz bietet die Waffe? Wie viel Leid, wie viel Schmerz, wie viel Rache und Unfrieden wird sie erschaffen, wenn sie benutzt wird, um zu schützen? Ein nahe stehender Baum gibt Antwort: „Nimm  dein Schutzbedürfnis ernst, achte gut auf dich, pass auf dich auf. Sei ein Mann, der gut mit sich umgeht. Auch der Baum ganz in der Nähe bietet in diesem Moment Schutz an vor dem Wind und der Kälte. Schutz wird angeboten, ist da und muss nicht „gemacht“ werden.

Trotz Eis und Schnee  ist schon das Leben zu sehen: Grün und Eis sind gleichzeitig da,  die Sträucher strotzen vor Leben! Tod  und Leben sind vereint, ein Kreislauf. Der Tod ernährt sogar das neue Leben. Auch die Toten der Kriege ernähren neues Leben. Es zeigt sich Lebensfreude in ihr. Sie hätte nicht erwartet in einem so toten Wald so viel Lebendigkeit zu finden.

Ein bewegungsloser Regenwurm, erinnert eine andere Frau an den Tod. Lebt er noch? Als sie ihn berührt und in die Hand nimmt, beginnt er sich zu räkeln. Sie er-innert sich: dass die Liebe, dass Mitgefühl Frieden und Leben schenken kann.

Zeit haben – sich Zeit lassen – langsam Sein

Die Frau fühlt sich erschöpft heute und beschließt, diesmal nicht viel Strecke zu machen, sondern lieber im Wald zu sitzen. „Ich bekomme mehr, wenn ich sitze!“Unfrieden entsteht durch Machen, Müssen, Schnell sein. Schon bald findet sie einen wunderbaren, einsamen Platz, umsäumt von Bäumen. Sie fühlt sich wie im Kreis mit alten Freunden. Sie hört in sich hinein, bis sie ihre Angst fühlen kann, ihre große Zukunftsangst für sich und ihre Familie. Sie spricht zu den Bäumen über ihre Angst, auch mit Traurigkeit. Die Bäume hören ihr zu wie alte Freunde, bis sie Trost fühlt. Ihre Erkenntnis aus diesem Erleben ist ganz einfach: Natur tut gut! In die Natur zu gehen heilt, bringt Frieden und verhindert Krieg.

Heilung von Weiblichem und Männlichem – Verbindung der Unterschiede

2 Bäume stehen da, einer für die Ukraine – einer für Russland, wie ein Tor in das neue Land der  Freundschaft. Wir sitzen ums Feuer, halten Council, schauen uns in die Augen. Das Göttliche spricht in der Frau: „alles ist da, wir leben im Paradies, können uns selbst nähren, alles ist in uns dafür, wir sind Schöpferwesen. Eure Aufgabe ist, dem Unfrieden auf die Spur kommen, den Dämon, das verletzte Kind (Putin) in euch zu nähren, solange bis Frieden herrscht. Erwachsen Sein bedeutet Schöpfer*in sein. Heilung von männlichem und weiblichem – von Mensch und Erde. Haltet den Schöpfungsraum rein. Was im Weg steht, räumt frei. Frieden bedeutet: alles ist irgendwie richtig.“

Schuld ist eine Erfindung von Menschen, in der Natur gibt es sie nicht. Sie macht uns klein und ohnmächtig. Verantwortung ist etwas Anderes. Verantwortung für unser Denken und Handeln zu übernehmen macht uns zu erwachsenen Wesen, die lernen, die dienen, die erschaffen, anstatt zu armen Sündern.

Ein  Jägerstand macht eine andere Frau wütend. Sie bemerkt den Impuls, ihn abzubauen. Rachegefühle. Sie entscheidet: Nein, das mache ich jetzt nicht. Die Entscheidung kostet sie Mühe und Entschiedenheit, leitet dafür aber Entspannung ein. Anzunehmen, dass es andere Interessen und Haltungen gibt, als die ihren. Den Respekt für die andersartigen Menschen und deren Interessen zu bewahren, schenkt ihr die Möglichkeit, in ihrem eigenen Frieden bleiben zu können. Nicht nur biologische Vielfalt in der Natur als wertvoll zu erachten, sondern auch die menschliche Diversität ist zu respektieren! Eine Haltung, die sie noch etwas kultivieren möchte.  Dann begegnet sie anderen Spaziergänge*innen. Friedlich sagt sie ihnen ein stilles Hallo.

In Dankbarkeit für beherzte Frauen und Männer und unsere großen Lehrer, die Natur und das Leben.

Arthur Dorsch im April 2022

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